Ein Transfermotor für den urbanen Raum

Der Wettbewerb Living Labs Europe Competition ist ein innovatives Förderformat, das die klimaneutrale Transformation städtischer Quartiere voranbringen soll. Geplant ist ein europaweiter Wettbewerb interdisziplinärer Teams, die in lokalen Reallaboren ihre Ideen erproben und in die Praxis umsetzen.

Nur wenige Gehminuten von Barcelonas Hafen entfernt steht ein großes Gebäude, von klassizistischen Arkaden umgeben: die Porxos d‘en Xifré; gleichzeitig stilprägend, denkmalgeschützt – und bis vor ein paar Jahren noch renovierungsbedürftig. Europaweit gibt es solche Orte, die die Politik vor Entscheidungen stellen: sanieren, neu bauen, oder in private Hände geben? Hier will die EU-Kommission den Bürgerinnen und Bürgern künftig verstärkt zuhören, ihre Ideen, Herausforderungen, Sorgen und Lösungen aufnehmen, so Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Jahr 2020.

Von der Leyen bezog sich dabei auf die EU-Initiative New European Bauhaus, die das urbane Zusammenleben nachhaltiger, ästhetischer und inklusiver machen soll. Gleichzeitig kündigte sie einen Preis für Projekte an, die diese drei Kernziele beispielhaft zusammenbringen. Unter den Gewinnerinnen und Gewinnern war auch Sergio Carratalá, Gründer eines Ingenieurs- und Designbüros. Er hatte im Rahmen der Renovierung von Porxos d‘en Xifré 2017 einen schwebenden Aufbau für das Dach umgesetzt, der den Denkmalschutz des Gebäudes berücksichtigte. Er begrünte diesen Aufbau, bedachte dabei Architektur und Artenschutz, brachte Solaranlagen, Regensammler sowie Kompostiermöglichkeiten unter.

Doch das Projekt wirft, wie viele der Preisträger, auch Fragen auf: Wie lassen sich solche Transformationen jenseits einzelner Leuchtturmprojekte gestalten? Und wie gelingt hier der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse? Schließlich kommen die wichtigsten Innovationen der Bereiche Energieversorgung und Nachhaltigkeit aus der Forschung. Und nicht zuletzt: Wie kann die Kommission ihr Versprechen einlösen, auch die Bürgerinnen und Bürger miteinzubeziehen?

Foto des neuen Dachaufbaus der denkmalgeschützen Proxos d‘en Xifré in Barcelona. Man sieht ein bepflanztes Dach, im Hintergrund steht eine Person.

Preisgekrönt: Der neue Dachaufbau der denkmalgeschützen Proxos d‘en Xifré in Barcelona.

Idee für Quartierswettbewerb

Die Antwort kann ein europaweites, fortlaufendes Wettbewerbsformat sein, das lokale Quartierstransformationen von der ersten Idee bis hin zur Nutzungsphase begleitet. Ein innovatives Förderformat wie der Wettbewerb Living Labs Europe Competition (kurz LLEC), den der Projektträger Jülich (PtJ) für das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) entwickelt. Ziel des LLEC ist es, klimaneutrale Quartierstransformationen voranzubringen und einen Transfer-Ruck auszulösen.

Das Format nutzt, im Gegensatz zu klassischen Förderformaten oder Preisen, die Spannung des Wettkampfes, um das Engagement von Teilnehmenden und Öffentlichkeit zu erhöhen. Nicht nur für einzelne Leuchtturmprojekte, sondern für klimaneutrale Quartierstransformationen überall in der EU. Während regelmäßig stattfindender Wettbewerbsevents werden Quartierslösungen durch Jurys bewertet und einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Das Format LLEC bietet hierbei einen Rahmen, in dem Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft interagieren können. So entsteht ein Transferraum für die Teilnehmenden, seien es Hochschulteams mit kreativen Ideen, kleinere Ingenieurbüros, kommunale Vertreter oder auch interessierte Bürgerinnen und Bürger. Dort können sie in interdisziplinären Teams Ideen entwickeln, in lokalen Reallaboren, also Living Labs, erproben und in die Praxis umsetzen. Ihre Ergebnisse gelangen über gemeinsame Veranstaltungen und den Wettbewerb selbst an neue Akteurinnen und Akteure in anderen Kommunen und stoßen dort weitere Prozesse an.

Weichere Kriterien wie Lebensqualität, Ästhetik und Kreativität sowie Inklusion gehören genauso zu den Wettbewerbskriterien wie messbare Ziele bei CO₂-Einsparung, Kreislaufwirtschaft und Bezahlbarkeit. Der Wettbewerb berücksichtigt diese Aspekte in allen Phasen des Transformationsprozesses, über mehrere Disziplinen. Hier zeigt sich eine große Überschneidung mit den Zielen des New European Bauhaus. „Wir können zahlreiche Fäden aufnehmen und Verknüpfungen herstellen“, sagt Steffen Jack, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei PtJ. „Die EU möchte Forschungsergebnisse sichtbarer machen. Und wo ginge das besser als in den Quartieren vor Ort? Der LLEC wird den Transferprozess der vorhandenen Technologien hinein in die Quartiere katalysieren – und das ist notwendig, damit wir die europäischen Klimaschutzziele erreichen.“

Initiativenglossar

European Green Deal
Die Maßnahmen des europäischen Green Deal sollen die EU in eine solidarische, klimafreundliche Zukunft führen. Dazu gehört unter anderem, bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr auszustoßen und das Wirtschaftswachstum von der Ressourcennutzung zu entkoppeln.

New European Bauhaus
Das Neue Europäische Bauhaus (NEB) der EU-Kommission ergänzt den europäischen Green Deal um Maßnahmen, die auch kulturelle und kreative Dimensionen enthalten. So sollen nachhaltige Innovationen vor Ort noch greifbarer und ein neuer Lebensstil geschaffen werden, der Nachhaltigkeit mit gutem Design und Klimaschutz vereint.

Horizon Europe
Horizont Europa ist das wichtigste EU-Förderprogramm für Forschung und Innovation. Zu den Zielen gehören der Kampf gegen den Klimawandel, die Erfüllung der UN-Nachhaltigkeitsziele und die Wettbewerbsfähigkeit der EU.

Strategic Energy Technology Plan
Der SET-Plan bildet die strategische Grundlage der EU für den Übergang zu einem klimaneutralen Energiesystem. Er bildet den Rahmen für die europäische Energieforschungsförderung und ist mittlerweile Teil von Horizont Europa.

Driving Urban Transitions to a Sustainable Future
Die DUT-Partnerschaft soll im Kontext von Horizont Europa urbane Übergänge vorantreiben und Forschungsergebnisse verfügbar machen. Der DUT-Projektaufruf konzentriert sich darauf, Evidenz und gute Praxisbeispiele zu schaffen, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik zu fördern und ortsbezogene Vorhaben zu initiieren.

Renovation Wave
Mit der Renovierungswelle will die EU-Kommission einen Teil der Green-Deal-Ziele erreichen, beispielsweise die Schlagzahl an energetischen Sanierungen in den nächsten zehn Jahren verdoppeln, die Wohnqualität verbessern und neue Arbeitsplätze schaffen.

Gute Erfahrungen mit Wettbewerben

Die grundsätzliche Chance für eine Wettbewerbsumsetzung ist durch die Europäische Partnerschaft Driving Urban Transitions to a Sustainable Future (DUT) gegeben. Die DUT-Partnerschaft will im Kontext von Horizon Europe (siehe Initiativenglossar) urbane Übergänge vorantreiben und Forschungsergebnisse verfügbar machen. Die geförderten Projekte sollen Evidenz und gute Praxisbeispiele schaffen, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik fördern sowie ortsbezogene Vorhaben initiieren.

„Forschung muss ihren Weg in die Anwendung finden“, erklärt Markus Kratz, Leiter des Geschäftsbereichs Energiesystem: Nutzung bei PtJ, der das LLEC-Konzept im Auftrag des BMWK entwickelt hat. „Wichtige Innovationen im Bereich der Quartierstransformation, insbesondere der Energieversorgung und der Nachhaltigkeit, kommen aus der Forschung. Sie kann wichtige Bausteine für Veränderungsprozesse liefern, wenn sie mit wirtschaftlichen Interessen und gesellschaftlichen Belangen in einen neuen Kontext gebracht wird.“

Bereits vor 20 Jahren entwickelte das US-Energieministerium einen Energie-Wettbewerb: den Solar Decathlon. Seit 2010 gibt es diesen gebäudebezogenen Zehnkampf auch in Europa. Dabei treten Hochschulteams mit Effizienzkonzepten gegeneinander an, 2022 in Wuppertal. „Eine Stärke beider Wettbewerbe ist die Begeisterung der Teilnehmenden. Beim Solar Decathlon können Studierende mit der Erstellung von Demonstratoren praxisnah loslegen“, erklärt Jack. „Der LLEC geht nun weiter – beflügelt den Transfer, da er sich auf die Transformation realer Quartiere bezieht. Wir wollen einen Transfermotor schaffen, der Wissenschaft, Investoren und Quartiersbewohner als Teilnehmende versteht. Dazu gehören reale Planungsprozesse, Investitionen und die direkte Umsetzung. Der Wettbewerb LLEC als gesellschaftliches Transfer-Forum geht damit weit über klassische Projektförderung hinaus.“

Dazu steht PtJ mit zahlreichen, auch internationalen Stakeholdern im Austausch. Anknüpfungspunkte gibt es viele, mit dem Solar Decathlon, dem New European Bauhaus oder auch der von der Kommission angeregten Renovierungswelle für Europa. Jack erklärt: „Die Transformation unserer Städte kann gelingen – durch Wissenstransfer und enge Verständigung zwischen Forschung, Wirtschaft und Gesellschaft. Neue Foren und Diskussionsräume wie der LLEC sind entscheidend, um diese Transformation zu realisieren.“ Seine Vision: Dass es Projekte wie das grüne Dach von Porxos d‘en Xifré, das Barcelona ein Stück weit nachhaltiger, sozialer und lebenswerter gemacht hat, künftig überall in Europa geben wird.

Hinter den Kulissen

Im Jahr 2007 hat das Bundeswirtschaftsministerium die deutsche Teilnahme am Solar Decathlon in Washington D. C. unterstützt. Aus dem damaligen Sieg der TU Darmstadt ergab sich ein enormer Motivationsschub für nachhaltiges Bauen. Daher galt es, ein innovatives Förderinstrument zu finden, das auf komplexe Herausforderungen – wie den Energie- und Ressourcenverbrauch in unseren Quartieren – nachvollziehbare und inspirierende Antworten anbietet. Das Bundeswirtschaftsministerium hat hierzu mit PtJ die Initiative Living Labs Europe Competition LLEC der EU-Kommission vorgeschlagen.

Menschen treffen Entscheidungen immer im spezifischen Kontext. Die Wettbewerbssituation schafft neben der Stimulanz auch Freiräume abseits der Alltagszwänge, um neue Wege zu erkunden, die in der Breite umsetzbar sind. Hier liegen die Vorteile des LLEC als innovatives Förderformat, das reale Quartierstransformationen katalysiert.

Transformation kann in einer demokratischen Gesellschaft nicht per Dekret funktionieren. Die Möglichkeiten für klimaneutrale Quartiere und Städte sind europaweit extrem vielfältig. Der LLEC will die allgemeine Notwendigkeit zum Klimaschutz mit kreativen Lösungen vor Ort verbinden und stellt dafür die wissenschaftlichen Rahmenbedingungen bereit. Damit erhält der Transfer aus der Forschung eine größtmögliche Menge an Multiplikatoren.

Bildnachweise


  • Bild „Ein Transfermotor für den urbanen Raum“: NEW EUROPEAN BAUHAUS AWARDS Xifré’s Rooftop © European Union
  • Bild „Proxos d‘en Xifrér“: NEW EUROPEAN BAUHAUS AWARDS Xifré’s Rooftop © European Union
  • Bild „Hinter den Julissen“: © Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH

Hinweise


Die Texte stammen aus dem Dossier „Regionale Innovationsförderung“ des PtJ-Geschäftsberichts 2021.
Redaktion:

  • Projektträger Jülich, Forschungszentrum Jülich GmbH
  • PRpetuum GmbH
Der Projektträger Jülich in Zahlen im Jahr 2023
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3392,05
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