Zum Hauptbereich (Eingabetaste) Zum Hauptmenü (Eingabetaste) Zum allgemeinen Seitenmenü (Eingabetaste)
Eine Stadt setzt Zeichen: Auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelände der Stadt Esslingen am Neckar entsteht das erste klimaneutrale Stadtquartier Deutschlands. Auf einer Fläche von rund zwölf Hektar wächst seit 2017 die Neue Weststadt – direkt im Ballungsraum von Stuttgart.
Was mit einem städtebaulichen Wettbewerb für ein brachliegendes Gelände begann, soll 2022 zukunftsweisend abgeschlossen sein: ein urbanes Quartier inklusive neuer Hochschule, das Arbeiten, Wohnen und Leben sozial freundlich und klimaneutral kombiniert. In den rund 550 Wohnungen sollen eines Tages mehr als 750 Menschen leben. 132 Wohnungen sind seit 2019 bewohnt, weitere 128 Wohnungen werden bis Mitte 2020 vermietet. Auch Gewerbeflächen wurden bereits vergeben. Die Realisierung eines solchen Vorzeige-Stadt- viertels ist ein wichtiger Baustein für die Stadt mit 90.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, denn die schwäbische Kommune will ihr ehrgeiziges Ziel weiter vorantreiben, die Kohlendioxidemissionen im Stadtgebiet bis Ende 2020 um ein Viertel zu reduzieren.
„Kernstück des technologisch innovativen Stadtquartiers ist das energetisch ganzheitliche Versorgungskonzept, das Strom, Wärme, Kälte und Mobilität auf intelligente Weise miteinander koppelt“, erklärt Professor Norbert Fisch vom Steinbeis Innovationszentrum (SIZ) Energie-, Gebäude- und Solartechnik (EGS) in Stuttgart. Der Ingenieur ist Initiator des Vorhabens und begleitet das Projekt mit dem SIZ-Team von Beginn an. Es zählt zu den sechs städtischen Leuchtturmprojekten in Deutschland, die durch die Förderinitiative Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt der Bundesministerien für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird.
Für Fisch, der sich mit Blick auf die Energiewende und die gesetzten Klimaschutzziele seit Jahren für den Ausbau von Photovoltaik, Windenergie und grünen Wasserstoff als Speicher einsetzt, steht fest: „Die dezentralen Energiesysteme mit einem Anteil von mindestens 85 Prozent an erneuerbaren Energien und grünen Wasserstoff bilden das Rückgrat der Energiewende. Es gilt, die drei Ds, also Dekarbonisierung, Dezentralisierung und Digitalisierung, insbesondere im Gebäudebestand zeitnah umzusetzen.“
Diesen Ansatz verfolgt das neu entstehende klimaneutrale Stadtquartier. Herzstück der Energie- und Technikzentrale ist ein Elektrolyseur, der Ende 2020 in Betrieb gehen soll. Er nutzt den überschüssigen Solarstrom von den Dächern im Quartier und den importierten Strom aus erneuerbaren Energien, um grünen Wasserstoff herzustellen. Es wird also elektrische Energie in chemische Energie umgewandelt. Die Nutzung des grünen Wasserstoffs erfolgt im Projekt durch direkte Einspeisung ins städtische Ergasnetz, außerdem wird der hoch verdichtete Wasserstoff an Industrieabnehmer und Wasserstofftankstellen geliefert. Im Forschungsprojekt wird die Rückverstromung des grünen Wasserstoffs in einem Mehrstoff-Blockheizkraft erprobt, das in der Regel mit Biomethan betrieben wird.
Dass der Elektrolyseur mitten im Quartier und nicht auf der grünen Wiese steht, hat zwei große Vorteile: Die Transportwege für die Nutzung des grünen Wasserstoffs sind kurz und die Abwärme des Elektrolyseprozesses – immerhin bis zu 30 Prozent – wird genutzt, um die benachbarten Gebäude über ein Nahwärmenetz mit Wärme für Warmwasser und Heizung zu versorgen. „Der Nutzungsgrad von Elektrolyseuren, der üblicherweise bei etwa 60 Prozent liegt, lässt sich so auf bis zu 90 Prozent steigern“, erklärt Fisch. Investor und Betreiber der Energiezentrale ist die Green Hydrogen Esslingen (GHE), ein Start-up, das 2019 eigens für das Projekt gegründet wurde. Die GHE geht davon aus, dass täglich bis zu 400 Kilogramm Wasserstoff erzeugt werden – genug, um beispielsweise 400 Fahrzeuge jeweils 100 Kilometer weit anzutreiben. „Im Förderprojekt ist auch eine Zukunftstankstelle vorgesehen. Diese wird jedoch erst gebaut, wenn sich in der Region Esslingen ein Markt für Fahrzeuge mit Wasserstoff abzeichnet. Deshalb wird der grüne Wasserstoff zunächst zu den in der Region vorhanden Wasserstofftankstellen transportiert“, so der Wissenschaftler.
Um dieses ausgeklügelte Konzept zu realisieren, haben die beteiligten zwölf Partner im Forschungsprojekt ein komplexes System aus Elektrolyse, Wasserstoffabfüllstation, Blockheizkraftwerk, Stromspeicher und Photovoltaikanlagen fürs Quartier entwickelt, das sie über ein intelligentes digitales Energiemanagementsystem vernetzen – und damit ein reales Smart Grid realisieren. Für die technisch- wirtschaftliche Optimierung des komplexen Systems aus dezentralen Energieerzeugern, Energieverbrauchern und Energiespeichern sowie der Mobilität wurde das Quartiers-Simulationsprogramm QUASI entwickelt, das mit den Monitoringdaten validiert werden soll. „Die technischen Lösungen und Komponenten sind seit Jahren bekannt“, erklärt Fisch. Das Besondere aber sei die erstmalige Umsetzung des Gesamtsystems in einem städtischen Quartier.
„Alleine das Genehmigungsverfahren für die Wasserstoffherstellung, für die Wasserstoffleitungen zur Abfüllstation und für die Abfüllstation sowie die regulatorischen Hemmnisse sind Erfahrungen, die für künftige Projekte genutzt werden können. Die Neue Weststadt ist somit eine Blaupause für einige der vom BMWi aufgelegten Reallabore“, resümiert der Professor für Solar- und Gebäudetechnik.
Quelle: Projektträger Jülich (PtJ)
Michael Stephan: Da geht es den Deutschen nicht anders als anderen. Sanierungen im Allgemeinen bedürfen oft beträchtlicher Investitionen und zeitlichen Aufwands, sodass häufig erst gehandelt wird, wenn es schon sehr dringend ist. Die Zinsen sind zwar niedrig und es gibt für Erspartes kaum attraktive Anlageformen. Aber die energetische Sanierung gehört aufgrund ihrer Komplexität leider nicht zu den Sachwerten, in die viele Menschen ohne zusätzliche Anreize ihr Geld investieren.
(Stand: 2013)
Hauke Meyer: Der Wohngebäude- bestand kann einen entscheidenden Beitrag leisten. Etwa 15 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland entfallen auf Heizung und Warmwasser in Wohngebäuden. Das Potenzial besteht darin, den gesamten Bestand klimaneutral umzugestalten – soweit die Theorie. Aber: Sehr viele Gebäude lassen sich nur mit erheblichem Aufwand und damit nicht kosteneffizient umfassend sanieren. Auch der Denkmalschutz steht dem teils entgegen. Ein realistisches Szenario ist deshalb, den Bestand möglichst weitgehend zu sanieren, dazu sind individuelle Konzepte erforderlich. Hierzu gehört auch, dass die optimalen Lösungen von Haus zu Haus und von Eigentümerin zu Eigentümer starkvariieren können.
Michael Stephan: Fast jeder Mensch kann den Verbrauch des eigenen Autos benennen. Beim eigenen Haus schätzen aber fast alle den energetischen Zustand als zu gut ein. Hier ist eine neutrale, kostenlose Erstberatung sehr wichtig, um überhaupt erst mal einen Überblick sowie Orientierung bei den Handlungsmöglichkeiten zu erhalten.
Michael Stephan: Ein- und Zweifamilienhäuser haben den größten Anteil am Wohngebäudebestand und emittieren dabei etwa doppelt so viel CO2 wie Mehrfamilienhäuser. Das Dilemma ist also, dass dort das größte Einsparpotenzial liegt, zugleich aber die energetischen Sanierungen in die jeweils sehr heterogenen Lebenssituationen passen müssen. Die sehr eng gerechneten Eigenheimfinanzierungsmodelle der Familien bieten zudem sehr wenig Spielraum für energetische Sanierungen. Dazu kommt die technische Komplexität und die vielfältige Kombinierbarkeit verschiedener Maßnahmen, die wiederum von verschiedenen Anbietern beworben werden.
Hauke Meyer: Um beim Klimaschutz richtig voranzugehen, gilt es daher, Eigentümerinnen und Eigentümer mehr an die Hand zu nehmen und flexibel gute Maßnahmenpakete zu ermöglichen. Wie das aussehen kann, untersuchen wir mit unseren Verbundpartnern und Partnerkommunen in Drei Prozent Plus sowie im Vorgängerprojekt Drei Prozent.
Hauke Meyer: Gemeinsam mit unseren Projektpartnern, der Beratungs- und Service-Gesellschaft Umwelt mbH (B.&S.U. mbH ) und der Hochschule für Technik Stuttgart untersuchen wir schwer zu aktivierende Energieeffizienzpotenziale. Darunter fallen etwa Quartiere mit heterogenen Einzeleigentümerstrukturen, also mit Kleinvermietern, Senioreneigentümern und kleinen Wohnungseigentümergemeinschaften mit ehrenamtlichen Verwaltern. Die Lebenssituation der Eigentümerinnen und Eigentümer, der Gebäudezustand oder die energetische Versorgung variieren teils stark. Entsprechend unterschiedlich können die optimalen Kombinationen von Sanierungsmaßnahmen sein. Deshalb sind mit Aachen-Brand, Ludwigsburg-Schlösslesfeld sowie der Gemeinde Roetgen und der Stadt Eschweiler in der Region Aachen sehr unterschiedliche Modellkommunen beteiligt.
(bei Gebäuden, die vor 1978 errichtet wurden)
Hauke Meyer: Im Rahmen des Vorgängerprojektes hat unser Projektpartner, B.&S.U. mbH, ein Instrument für unsere Partnerkommunen entwickelt: Den Sanierungsfahrplan für kommunale Quartiere (SFQ). In mehr als 75 Interviews und etwa zehn runden Tischen mit lokalen Akteuren wurde deutlich, dass die Treiber und Hemmnisse energetischer Sanierung je nach Gebäude- und Eigentümertyp sehr unterschiedlich sind. Ausgehend davon wurden SFQ – angepasst an Problemlagen und Eigentümergruppen – entwickelt, um unterschiedliche Zielgruppen zu motivieren und noch ungenutzte Energieeffizienzpotenziale zu mobilisieren. In diesen Fahrplänen hat die B.&S.U. mbH für die nächsten fünf Jahre Maßnahmenvorschläge für den Gebäudebestand pro Quartier definiert und weitere Ziele bis 2050 projiziert. Im aktuellen Projekt begleitet die B.&S.U. mbH die Umsetzung der SFQ vor Ort.
Michael Stephan: Dass der Gebäudebestand allein durch die Verbesserung der Energieeffizienz der Gebäude selbst bis 2050 klimaneutral wird, ist kaum vorstellbar. Es besteht noch eine theoretische Chance, den CO2-Footprint der Gebäude deutlich zu verringern und die Restwärme regenerativ in die Gebäude zu bringen. Bis 2050 wird jedes Bestandsgebäude mindestens einmal instand gesetzt werden müssen. Dieser Zeitraum muss genutzt werden, um dabei auch Energiesparmaßnahmen oder Maßnahmen zur regenerativen Energieerzeugung durchzuführen.
Hauke Meyer: Der Schlüssel wird tatsächlich in der Kombination aus der regenerativen Versorgung und den Energieeffizienzmaßnahmen liegen. Der flexiblen Nutzbarkeit von Fördermitteln kommt hier eine entscheidende Rolle zu. Nur durch flexible Maßnahmenkombinationen können Anreize für alle Gebäude- und Eigentümertypen gesetzt und – verbunden mit einer guten Informations- und Beratungsstruktur – Masseneffekte erzielt werden.
Bild „Sektor Gebäude“: ©Damian - stock.adobe.com
Bild „Das Vorzeige-Quartier“: Roman Babakin
Bild „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“: Architekten Graf + Graf
Schematische Darstellung des Energiekonzeptes des Vorzeige-Quartiers „Neue Weststadt: Projektträger Jülich (PtJ)
Bild „Energetischer Sanierung auf die Sprünge helfen“: ©photo 5000 - stock.adobe.com
Bild „Die Verbundvorhaben Drei Prozent und Drei Prozent Plus“: ©Simon - stock.adobe.com
PtJ ist zertifiziert nach DIN EN ISO 9001 : 2015 und ISO 27001 auf Basis IT-Grundschutz