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Grausam: In der griechischen Mythologie hackt ein Adler Prometheus täglich einen Teil seiner Leber heraus, der bis zum nächsten Tag nachwächst. Tatsächlich ist die Leber in der Lage, sich schnell zu regenerieren. Bis zu 70 Prozent ihrer Masse kann der menschliche Körper nach einer Schädigung wiederherstellen. Als zentrales Stoffwechselorgan ist sie nicht nur für die Nährstoffaufnahme zuständig, sondern entgiftet auch das Blut.
Die Leber ist eine intelligente Netzwerkerin. Netzwerk Virtuelle Leber heißt konsequenterweise jenes Projekt, in dem 70 deutsche Forschergruppen sowie weitere internationale Teams von 2010 bis 2015 die Organisationsebenen der Leber untersucht haben: vom Organ über die Leberläppchen als funktionelle Einheit auf Gewebeebene bis hin zur molekularen Ebene. Von deutscher Seite hat der Projektträger Jülich (PtJ) die Förderinitiative für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) betreut. Basis für das Projekt ist die Systembiologie, also das Wechselspiel von Beobachtung, Modellierung und Experiment. „Zunächst mussten innerhalb jeder Organisationsstufe die Experimentatoren mit den Theoretikern kommunizieren und versuchen, experimentelle Ergebnisse gemäß vorher definierter Fragestellungen mithilfe von Modellen zu erklären“, sagt Dr. Dirk Drasdo von der Universität Leipzig. Der Systembiologe war an dem Projekt maßgeblich beteiligt – als Modellierer, Projektleiter und Mitglied im Lenkungsausschuss. Darauf aufbauend entwickelten die Wissenschaftler dynamische Modelle, welche die Physiologie, Morphologie und Funktion der Leber auf verschiedenen Organisationsebenen modellhaft abbilden.
Eine typische Fragestellung, in die Drasdo involviert war: Wie regeneriert sich eine durch Schmerzmittel-Überdosierung akut geschädigte Leber? Immerhin ist eine Paracetamol-Überdosis der häufigste Grund für akutes Leberversagen in den USA und England. „Wir haben ein Multiskalenmodell für die Organisations- und Funktionsebenen entwickelt“, erklärt Drasdo. Durch die Iterationen von Experiment und Modellierung wurden die Modelle zunehmend besser und genauer. Und auf Basis der Modellsimulationen wurden informative Experimente gezielter ausgewählt und damit der Einsatz von Ressourcen optimiert. Immer mehr Phänomene ließen sich simultan erklären. „Uns ist damit ein Ansatz gelungen, der künftig helfen könnte, Menschen mit akutem Leberversagen, besser zu behandeln“, erklärt Drasdo. Die Einblicke in die Leberregeneration versprechen darüber hinaus neuartige Therapie-Ansätze bei Zirrhose und anderen Schädigungen der Leber.
Aufbauend auf den Erkenntnissen ist inzwischen ein Projekt gestartet, bei dem Drasdo wieder dabei ist: Das Forschungsnetz Systemmedizin der Leber – eine Initiative, die PtJ erneut für das BMBF administriert – berücksichtigt verstärkt die klinische Anwendung. Auf Basis von systembiologischen Ansätzen wollen Ärzte, Molekularbiologen und Bioinformatiker übergreifende Schlüsselprozesse identifizieren, die zur Entstehung von Lebererkrankungen führen. Basierend auf aktuellen Fortschritten in der klinischen Leberforschung sollen mit diesem Ansatz eine Einordnung der Patienten in Risikogruppen ermöglicht sowie optimierte Behandlungsverfahren entwickelt werden.
Die Systemmedizin gewinnt allmählich an Bedeutung. Entwickelt hat sie sich aus der Systembiologie, die als Forschungsansatz in Deutschland in den letzten Jahren etabliert und weiterentwickelt wurde. Sie zielt darauf ab, das dynamische Zusammenspiel möglichst aller Komponenten eines biologischen Systems zu beschreiben, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten. Hierzu werden biologische Vorgänge mit mathematischen Modellen beschrieben. Wissenschaftler überprüfen diese Modelle anhand experimenteller Daten und verbessern sie in iterativen Zyklen von Laborexperiment und computerbasierter Modellierung. Inzwischen wurde gezeigt, dass der systembiologische Forschungsansatz in verschiedenen Bereichen erfolgreich angewendet werden kann. Auch in der Gesundheitsforschung, also für klinisch relevante Fragestellungen, wurden erste Modelle erstellt und getestet.
Es gibt erste Projekte, in denen Wissenschaftler mithilfe mathematischer Modellierung die Möglichkeit einer personalisierten Behandlung von Krebspatienten untersuchen. Ein Beispiel ist das Verbundprojekt Treat20plus, das PtJ für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) betreut. Die Forscher setzen ein Computermodell ein, mit dem vorhergesagt werden kann, wie verschiedene Wirkstoffe bei einem Patienten individuell wirken. Das macht eine maßgeschneiderte Krebstherapie möglich, da für jeden einzelnen Patienten die jeweils passenden Wirkstoffe identifiziert werden können.
Ihre vollständige Rolle für Medizinanwendungen, einschließlich der personalisierten Therapie, ist noch nicht abzuschätzen. Auch wenn erste Ansätze erfolgsversprechend sind – bis der Arzt Entwicklungen aus der Systemmedizin am Patientenbett einsetzt, ist es noch ein weiter Weg. Dennoch wird es meiner Meinung nach ohne Systemmedizin nicht möglich sein, komplexe Krankheitsprozesse zu analysieren und zu beschreiben. Der Einsatz von mathematischen Modellen und Computersimulationen ist dabei essenziell, um Vorhersagen zum Krankheitsverlauf und zur Wirksamkeit von Arzneimitteln und Therapien für den gesamten Gesundheitsbereich zu erzielen.
Deutschland bildet gemeinsam mit Großbritannien europaweit die Spitze der systemmedizinischen und systembiologischen Forschung. Das spiegelt sich unter anderem in der umfangreichen Beteiligung deutscher Forscher an den Fördermaßnahmen der EU-Kommission wider, die PtJ koordiniert. Eine dieser Maßnahmen ist ERACoSysMed, das erste systemmedizinisch orientierte ERA-Net in Europa.
PtJ ist zertifiziert nach DIN EN ISO 9001 : 2015 und ISO 27001 auf Basis IT-Grundschutz